A. Hilger: Sowjetisch-indische Beziehungen 1941–1966

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Title
Sowjetisch-indische Beziehungen 1941–1966. Imperiale Agenda und nationale Identität in der Ära von Dekolonisierung und Kaltem Krieg


Author(s)
Hilger, Andreas
Series
Osteuropa in Geschichte und Gegenwart 2
Published
Köln 2018: Böhlau Verlag
Extent
767 S.
Price
€ 110,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Wolfgang Mueller, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien

Es waren zwei pompöse mehrwöchige Staatsbesuche im Juni und Dezember 1955, eigentlich Triumphzüge durch ein befreundetes Land, die ostentativ eine neue Phase sowjetisch-indischer Beziehungen, ja gleichsam eine friedliche Offensive der Sowjetunion gegenüber der Dritten Welt einleiten sollten. Während Ministerpräsident Jawaharlal Nehru sein postkoloniales, sich entwickelndes Land als aufnahmebereit, unabhängig, aber auch blockfrei zu präsentieren strebte, war es Nikita Chruščëvs Absicht, die kommunistische Supermacht als Unterstützerin der Dritten Welt zu positionieren, um diese im Kalten Krieg auf die Seite der Sowjetunion zu ziehen.

Die geläufige Interpretation, nach der die Machtübernahme Chruščëvs eine Zäsur für die bilateralen Beziehungen zwischen Indien und der Sowjetunion darstellt, wird von Andreas Hilger, dem stellvertretenden Direktor des Deutschen Historischen Instituts Moskau und einem Experten für die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und danach, differenziert. Zwar gelte weiterhin, dass erst „unter Nikita Chruščev […] das unabhängige Indien endgültig eine zentrale Stellung in den sowjetischen Beziehungen zur Dritten Welt einnahm“ (S. 14). Aber bei näherem Hinsehen und nach über 600 quellengesättigten Seiten der auch als Habilitationsschrift angenommenen Arbeit „lassen sich seit Anfang der 1950er Jahre und damit seit dem Spätstalinismus anstelle der vermeintlichen klaren Bruchstellen fließende Übergänge feststellen“. „Die Einschnitte von 1953 und 1964 [waren] so tief nicht, die Übergänge verschwommener und die Kontinuitäten zahlreicher.“ (S. 648)

Hilgers Studie stellt einen Quantensprung in der Erforschung der sowjetischen Politik gegenüber Südasien und der Dritten Welt dar.1 Sie beruht auf russischen, indischen, US-amerikanischen, britischen und deutschen Archiven; der umfassende Apparat ist alleine schon aufgrund der enthaltenen Kurzbiographien sowie des beigeschlossenen statistischen Materials überaus wertvoll. Der Hauptteil ist in vier chronologische Abschnitte gegliedert, welche die Zeiträume 1917–1947, 1947–1955, 1955–1965 und 1965–1966 umfassen. Die beiden zentralen, mit Abstand umfangreichsten Abschnitte setzen sich aus thematischen Kapiteln zu institutionellen Aspekten, Interaktionen und Weltbildern, Politik, Wirtschaft und Kultur zusammen. Die Zeit vor der Unabhängigkeit Indiens 1947 und nach 1965 ist deutlich knapper, aber immer noch ausführlich behandelt.

Tatsächlich bestanden bis zum Zweiten Weltkrieg nur wenige Kontakte zwischen der UdSSR und Indien. Obwohl die Kommunistische Internationale auf dem Kongress der Völker des Ostens in Baku 1920 mit dem Ziel, die Befreiung und Revolutionierung der Kolonien zu fördern, aber auch den Westen durch Unterminierung der Kolonialreiche zu schwächen, ihre Fühler nach Asien ausstreckte und auch mehrere indische Delegierte an der Tagung teilnahmen, die im Anschluss daran in Taškent mit sowjetischer Finanzierung die KP Indiens (CPI) gründeten, blieb das reale sowjetische Interesse am Subkontinent gering. Die bolschewisierte Komintern forderte Unterordnung der Kolonialvölker unter die Vorgaben Stalins; als der CPI-Gründer M.N. Roy dies kritisierte, wurde er 1929 aus der Partei ausgeschlossen; dem Stalinterror fielen zahlreiche indische Kommunisten zum Opfer. Das sowjetische Wissen über Indien war gering. Immerhin besaß die TASS, wie Hilger zeigt, seit 1942 einen permanenten Korrespondenten in Indien, dem bis Kriegsende ein zweiter nachfolgte.

In Indien blieb das öffentliche und politische Interesse an der Sowjetunion bis in die 1950er-Jahre auf die moskautreue KP-Sekte beschränkt. Zwar verlieh die Sowjetunion auf der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen in San Francisco 1945 ihrer Hoffnung auf eine baldige indische Unabhängigkeit Ausdruck (S. 50) und erklärte im folgenden Jahr ihre Bereitschaft zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen (S. 60). In der sowjetischen Propaganda wurde Indien aber weiterhin als angeblicher Lakai des Kolonialsystems bzw. „Spielball britischer oder amerikanischer Interessen“ (S. 140) porträtiert; düstere, ideologisierte und orientalisierende Reportagen über Hunger, Armut, „schmutzige enge Straßen“, „eine lärmende Menge“, „heilige Kühe“ und „glückliche Affen“ (S. 145) waren kaum dazu angetan, indische Sympathien zu wecken und auch die sowjetischen Forschungsinstitute folgten ihrem expliziten Auftrag, anhand der Zustände in Indien vor allem die „Krise des Kolonialsystems“ zu „entlarven“ (S. 98). Zudem wurde die Kommunistische Partei Indiens gemäß der Kalten-Kriegs-Linie Moskaus zu einem Linksruck gezwungen, der sie zu einer in stalinistische, trotzkistische und titoistische Fraktionen zerrissenen Kleinpartei mit 20.000 Mitgliedern degradierte. Hilger konstatiert eine sowjetische „Selbstblockade“: „Bis März 1953 eröffnete Stalins Außenpolitik, die sich fortgesetzt rigide gegen alle kapitalistischen und unentschlossenen Staaten stellte, dem sowjetischen Imperium keine echten Erfolgsaussichten.“ (S. 151)

Dennoch nahm ab 1950 die sowjetische Aufmerksamkeit für Indien zu und auch in der sowjetischen Einschätzung des blockfreien Staates schien sich ein Wandel vorzubereiten. Der Sieg der Kommunisten im chinesischen Bürgerkrieg 1949 hatte die Kräfteverhältnisse im Kalten Krieg massiv verschoben und der von Stalin und Mao unterstützte Überfall Nordkoreas auf Südkorea löste nicht nur den ersten heißen Krieg der Epoche aus, sondern brachte den Westen auch militärisch massiv in Bedrängnis. 1950 empfing Stalin erstmals den Botschafter Indiens und versicherte 1952, dass er die antikommunistische Regierung Indiens nicht als Feind betrachte (S. 167, S. 201). Inzwischen waren auch die Führer der CPI im Kreml empfangen worden. Das sowjetische Werben jener Jahre ordnet sich ein in eine Phase intensiven sowjetischen Kampfes gegen die Entstehung der NATO und EVG sowie einer damit verbundenen Flexibilisierung der sowjetischen Politik gegenüber neutralen und blockfreien Strömungen, die sich insbesondere in der Stalinnote für Deutschland, aber auch der sowjetischen Österreichpolitik manifestierte. Andererseits sorgte die Rolle Indiens während des Koreakrieges für sowjetische Nervosität.

Trotz dieser zarten Avancen gelang der bilaterale Durchbruch erst nach Stalins Tod. Die sowjetische Aussöhnung mit Jugoslawien, der Abschluss des österreichischen Staatsvertrages, die Rolle Indiens in der Repatriierungskommission für Korea, die neu erwachte sowjetische Neutralitätspropaganda gegen den NATO-Beitritt der Bundesrepublik Deutschland und gegen die Gründung der SEATO 1954 und CENTO und schließlich der sowjetische Übergang von der Zwei-Lager- zur Drei-Lager-These im Gefolge der Bandungkonferenz – sie alle sprachen für eine Aufwertung Indiens in der sowjetischen Außenpolitik und dafür, dass „Moskau in der Dritten Welt endgültig auf einen differenzierten Umarmungskurs setzte“ (S. 215). Begleitet wurden die politische Offensive und Besuchsdiplomatie durch sowjetische Exportkredite, die sich bis Ende der 1960er-Jahre auf circa 1,5 Mrd. US-Dollar beliefen, und die Errichtung von Industrieanlagen wie beispielsweise dem Stahlwerk von Bhilai, dem damals größten Indiens. Als die CPI, die bei den Parlamentswahlen 1957 mit 8,9 Prozent der Stimmen den dritten Platz erreichte, im Staat Kerala an der Westküste mit 48 Prozent den regionalen Regierungschef stellte, verdoppelte die Sowjetunion ihre Importe von dort (S. 418).

Ungeachtet dieser Annäherung blieben die bilateralen Beziehungen heikel. Einerseits war Nehru gegenüber den indischen Kommunisten zu keinem Nachgeben bereit und ließ den kommunistischen Regionalchef kurzerhand des Amtes entheben. Er entzog sich auch sowjetischen Vereinnahmungsversuchen und äußerte – insbesondere anlässlich der sowjetischen Niederschlagung des DDR- und des Ungarnaufstandes 1953 und 1956 – Kritik am sowjetischen „Imperialismus“. Andererseits, und dies war wesentlich bedeutender, wurden die indisch-sowjetischen Beziehungen sukzessive vom chinesisch-sowjetischen und vom chinesisch-indischen Konflikt überschattet. Zwar waren nach der Verkündung der „Friedlichen Koexistenz“ zwischen der VR China und Indien 1954 die Auspizien günstig, doch nahmen die Spannungen bald zu. Erstens betrachtete der ideologisch aggressive Mao den „Standpunkt der Neutralität“ als einen „Standpunkt der Bourgeoisie“ (S. 427) – dem sich auch Chruščëv 1961 nolens volens anschloss: „Neutrale Länder sind nicht neutral. Sie sind gegen den Kommunismus.“ (S. 454) Zweitens wuchs mit dem Näherrücken der Rotchinesen in südlicher Richtung im Gefolge der Niederschlagung des Tibetaufstandes auch ihr Interesse an Grenzrevisionen auf Kosten Indiens. Der chinesisch-indische Krieg 1962 sollte zu einem Fiasko sowjetischer Indienpolitik werden: „Warum tritt die Sowjetunion nicht zur Verteidigung eines Opfers von Aggression auf?“, fragte der indische Botschafter in Moskau und forderte die Durchführung der ausgesetzten sowjetischen Flugzeuglieferungen (S. 476). Nachdem sich der Kreml anfangs auf die Seite Chinas geschlagen hatte, um das bereits zu einem ideologischen Herausforderer gewordene KP-Regime bei der Stange zu halten, kehrte er später wieder zu einem neutralen Standpunkt zurück, ja kritisierte sogar die angehende Atommacht China, was bald in eine Eskalation des sino-sowjetischen Konfliktes samt Grenzstreit mündete. Aber nicht nur der sowjetische Wunsch nach friedlichen Beziehungen zu Peking und Delhi sowie zwischen der verbündeten VR China und dem befreundeten Indien blieb unerfüllt, sondern auch jener nach einer Entspannung zwischen Indien und dem US-Verbündeten Pakistan, um diesen im südasiatischen Kräftepentagramm von der westlichen Führungsmacht zu entfernen und zu verhindern, dass Indien sich dieser annähere. Doch die sowjetische Empfehlung im pakistanisch-indischen Krieg 1965, dass Indien hart bleiben solle, führte ebenso wenig zum erhofften Ergebnis wie die Konferenz von Taškent 1966.

Hilger hat ein umfassendes, penibel dokumentiertes und differenziert formuliertes Werk vorgelegt. Auf der theoretischen Ebene könnte man hinterfragen, ob das Gegensatzpaar Imperium vs. Nationalstaat ein geeignetes Prisma für die beiden zentralen Protagonisten bietet: Zwar sind imperiale Charakteristika der sowjetischen Konstruktion und Außenpolitik unbestritten, da die systemische Anwendung von Gewalt dem Konzept der Hegemonie widerspricht, doch spielte die sowjetische Multiethnizität in der Außenpolitik keine Rolle. Gleichzeitig war und ist das Vielvölkerreich Indien alles andere als ein klassischer Nationalstaat. Auf der Detailebene hält der Rezensent den Begriff „Aggressoren“ für England und Israel im Sueskrieg (S. 395f.) mit Blick auf die aggressiven Akte Ägyptens und der Fedajin gegen Israel als ebenso wenig treffend wie jenen des „Kapitalismus“ für das westliche politische System (S. 481) im Kalten Krieg, das sich wohl präziser als liberaler Parlamentarismus umschreiben lässt. Auch scheint der der marxistischen Selbstdefinition folgende Begriff eines sowjetischen „Sozialismus“ ungeeignet, die Differenzen zur Sozialdemokratie abzubilden. Unbeschadet dieser Details legt der Verfasser aber klar und überzeugend Interessenkoinzidenzen, -vereinbarkeiten und -konflikte zwischen der kommunistischen Supermacht und dem in seiner Bevölkerungszahl immerhin doppelt so großen Postkolonialstaat dar und zeigt, wie „sich Moskaus imperiale Programmatik an indischer Selbstbestimmung“ rieb (S. 642). An diesem gewichtigen Standardwerk wird keine einschlägige Forschung vorbeikommen.

Anmerkung:
1 Die Beziehungen der Sowjetunion zu Südostasien wurden seit den 1990er-Jahren in einzelnen Aspekten ausgeleuchtet. Die sowjetischen Beziehungen zu Vietnam wurden von Ilja Gaiduk, zu Indonesien von Ragna Boden, zur Blockfreienbewegung von Jürgen Dinkel, zu Indien von Vojtech Mastny und Andreas Hilger selbst untersucht und zum Teil inklusive der genutzten Quellen publiziert. Aufschlussreich sind auch die Forschungen von Nihil Menon über die technologische Modernisierung Indiens als Drahtseilakt zwischen West und Ost. Für den größeren Kontext, die Interaktion zwischen Entkolonisierung und Kaltem Krieg, bildet Odd Arne Westads „Global Cold War“ noch immer den entscheidenden Rahmen.

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